Verena Engert
Mein Engagement
als Jesuit Volunteer in Peru
Von August 2018 bis August 2019 durfte ich als Jesuit Volunteer die Kinder im Projekt CANAT in Piura/ Peru begleiten.
Das Leben mit den Kindern hat mich derart bewegt und nicht losgelassen weshalb ich im März 2023 noch einmal zurückgekehrt bin, um ein weiteres Jahr ein Stück ihres Lebensweges mit ihnen zu gehen.
Auf dieser Seite berichte ich über das Projekt und meine Arbeit während meiner Zeit in Peru.
Mich weiterhin für die Zukunft der "kleinen arbeitenden Händchen" (manitos) einzusetzen
ist mir ein Herzensanliegen!
Alleine schaffen sie es nicht, der Armut zu entkommen um ein Leben ohne Hunger und Perspektivlosigkeit zu führen.
Muchas gracias - vielen Dank für jedes einzelne Zeichen der Unterstützung!
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Marcus Tullius Cicero
Piura im Norden Perus ist eine der ärmsten Regionen des Landes. Mit der Hoffnung, Arbeit zu finden, ziehen die Menschen in die Städte. Doch ihre Träume werden in den meisten Fällen enttäuscht. Die Eltern können mit ihrem geringen Einkommen die Familie nicht ernähren. Deswegen müssen auch die Kinder früh zum Unterhalt beitragen. Zum Teil sind sie da gerade einmal fünf Jahre alt. Viele können deswegen die Schule nicht beenden. Wegen der Armut können sie sich auch keine Ausbildung leisten. Ungelernt arbeiten die meisten Kinder schwer. Sie sind Hilfsarbeiter in Läden und Restaurants oder Müllsortierer auf den Müllhalden.
Weitere über 200 junge Menschen im campo werden in staatliche Ausbildungsprogramme vermittelt, um auch ohne Schulabschluss eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten.
Sie alle eng zu begleiten und ihnen psychologisch beizustehen ist eine weitere Kernaufgabe von CANAT. Die Familien leben in extremer Armut, die Kinder sind zum Teil Gewalt ausgesetzt, schwere Erkrankungen von Familienmitgliedern sind weitere fundamentale Probleme und es ist keine Seltenheit, dass die Kinder bei Verwandten aufwachsen, da sich die Eltern nicht um sie kümmern (können).
Die Arbeit der Jesuitenmission sowie das Programm Jesuit Volunteers finanzieren sich über Spenden. Um das CANAT-Projekt unterhalten zu können, sind ebenfalls finanzielle Mittel notwendig.
Spendenkonto:
Empfänger: Jesuitenmission
IBAN: DE61 7509 0300 0005 1155 82 (Liga Bank)
BIC: GENO DEF1 M05
Verwendungszweck: X79300 CANAT
... zur Unterstützung der Kinder und Jugendlichen im Projekt CANAT
Verwendungszweck: X38000 Freiwilligendienst
... zur Unterstützung des Freiwilligenprogramms Jesuit Volunteers
Wer eine Spendenquittung möchte, kann seine Adresse in den Verwendungszweck schreiben und bekommt diese dann per Post zugeschickt.
April 2023
Ich bin mir sicher, alle haben im Laufe des Lebens schon einmal erfahren müssen, worin der Unterschied besteht, von einer dramatischen Situation zu hören oder diese tatsächlich selbst erleben, aushalten und bewältigen zu müssen!
Diese Lektion wurde mir gleich am Tag nach meiner Ankunft in Piura – meinem Einsatzort als JesuitVolunteer – erteilt. Dass die Küstenregion im Norden des Landes seit einigen Wochen mit extremen Regenfällen zu kämpfen hat – davon hatte ich gehört. Normalerweise regnet es hier keinen einzigen Tropfen. Das kann ich von meinem Freiwilligeneinsatz 2018/19 bestätigen. Dies lässt erahnen, welche Katastrophe ein Regen auslöst, bei dem förmlich Eimer über der Stadt und den umliegenden Feldern ausgeschüttet werden; und all dies über Stunden hinweg.
In meiner zweiten Nacht in Piura war ich selbst mittendrin! Ich habe das große Glück, dass unser Wellblechdach keine größeren Schäden aufweist – aber an den Verbindungsnähten dringt das Wasser ein und so werden schnell alle vorhandenen Eimer, Schüsseln und Töpfe aufgestellt; streng beobachtet, um sie auch rechtzeitig vor dem Überlaufen auszuschütten – und zwar einfach über den Balkon hinunter auf die Straße, wo das Wasser bereits wie ein kleiner Fluss an den Häusern vorbeizieht. Doch was tun, wenn das Wasser plötzlich in Rinnsalen an der Innenwand herabläuft und die Pfützen auf dem Fußboden immer größer werden? „Schnell – wir brauchen Lappen!“ (mit denen wir schlecht ausgestattet sind, denn alle Stoffreste, die herumliegen, saugen kaum Wasser auf). Geschirr- und Handtücher müssen herhalten und so wringen wir über fast drei Stunden hinweg permanent die Lappen aus und schütten ca. 100 Liter Wasser in unseren Straßenfluss. Die Hände sind schon ganz aufgeweicht und ich möchte gar nicht wissen, was sich alles mit dem Regenwasser vermischt hat. Doch das ist in diesem Moment egal. Gegen 2 Uhr in der Nacht scheint der Himmel nun endlich leer zu sein – ebenso meine letzten Kraftquellen. Zeit, um zu schlafen – aber die Gedanken lassen es nicht so einfach zu…
… denn das, was ich selbst erlebt habe, ist NICHTS im Vergleich zu dem Elend, das tausende von Menschen sowohl in der Stadt – aber noch viel mehr im campo – also auf dem Land, erlitten haben und noch immer darunter leiden! Man muss sich vorstellen:
In der ca. 500.000 Einwohner zählenden Stadtgibt es Viertel, die weder gepflastert noch geteert sind. Eine simple Erdpiste führt durch die Straßen. Hier gräbt sich das angesammelte und rasend schnell passierende Wasser tief ein, wühlt die Erde auf, vermischt sich mit Abwasser und Benzinresten und schwemmt tiefe Furchen aus, kriecht letztlich durch jede Ritze in die Häuser ein. Es gibt kein Halten denn viele Viertel liegen in einer Senke und das Wasser nimmt seinen Lauf. Verstärkt werden die Wassermassen noch deutlich durch die Bäche, die direkt vom Wellblechdach herabprasseln. Dachrinnen sind hier völlig unbekannt. In Straßen, in denen das Wasser nicht abfließt da es kein Gefälle gibt, stehen die Menschen barfuß in Mitten des Dilemmas und versuchen mit vereinten Kräften, das Wasser per Besen und Schaufeln vorwärtszutreiben. Das gesundheitliche Risiko ist den Menschen in diesem Moment nicht bewusst. Eine Freundin erzählt mir später, dass ihre Schwester wegen hohen Fiebers und starkem Erbrechen ins Krankenhaus gebracht werden musste. Doch man muss Glück haben, um auch angenommen zu werden, denn die Kapazitäten sind schnell erschöpft. Ein weiteres Problem ist die Kanalisation. Es fehlen Drainagen und das Wasser kann in diesen unermesslichen Dimensionen nicht mehr abfließen. Doch das ist noch nicht das Ende des Liedes denn da ist auch noch der Fluss Piura, der mitten durch die Stadt fließt und die ganzen Niederschläge der Anden mit sich führt. Wenn die Piura über ihre Ufer tritt, würde sich die Naturkatastrophe „El Niño“ aus dem Jahr 2017 wiederholen – das wäre fatal!
Im campo – also auf dem Land– kommen noch weitere Komponenten hinzu, die tatsächlich das Überleben bedrohen. Die Konstruktion der Häuser (man muss es eher als simple Hütten bezeichnen) besteht aus Bambusrohren, Wellblech und Draht. Einige Wände sind aus Schilf geflochten und über den offenen Holzfeuerstellen befindet sich in der Regel ein Dach aus Palmwedeln, damit der Rauch abziehen kann und sich nicht im Haus verfängt. Sowohl das Essen wird auf dem offenen Feuer zubereitet als auch „chicha“ – eine Art Most aus Maiskolben. Das ist für viele Familien eine wichtige Einnahmequelle, denn sie verkaufen das beliebte Getränk. Doch was tun, wenn das Zuhause dem Starkregen nicht standhält, wenn das Dach einfällt oder eine Wand einstürzt, wenn man bis zu den Waden im Wasser steht und alles durchnässt ist; von oben und von unten? Wenn das Feuerholz nicht mehr zu gebrauchen ist, da es vollgesogen ist vom Regen?
Und dann ist da nochdie angrenzende sierra – also die Bergwelt in den Anden– wo sich ein Szenario abspielt, das man sich gar nicht ausmalen möchte! Doch es ist die gnadenlose Realität, aus der die Menschen dort nicht entkommen können. Es haben sich zahlreiche Erdrutsche ereignet und sämtliche Häuser, Straßen mitsamt einiger Einwohner in den Abgrund gezogen. Furchtbar sind die Nachrichten von vermissten Kindern. Die Menschen blicken in eine große Leere. Mit den Kräften am Ende und ohne eine Perspektive, wie es hier weitergehen soll.
Die Bevölkerung wartet auf Hilfe vom Staat, die kaum wahrzunehmen ist. Ein paar Lebensmittelpakete wurden sporadisch verteilt, die Kommune ist überfordert mit den Hilfsanträgen (die zu stellen viele betroffenen Menschen oft gar nicht in der Lage sind) zur Rekonstruktion der Dächer, hin und wieder sieht man eine kleine Pumpe in der Straße, die hilflos versucht, das stehende Wasser abzuleiten. Viele Straßen sind unpassierbar weil das Wasser alles blockiert. Einzelne Siedlungen sind abgeschnitten und es kommt eine große Gefahr hinzu:Dengue!Die Bevölkerung hat Angst, denn es fehlen die Mittel zur Prävention. Man behilft sich mit ein paar Räucherstäbchen, welche die gefürchteten Stechmücken vertreiben sollen, allerdings schädlich für die Atemwege sind. Mückenspray ist teuer und rar. Es kursieren ein paar Hausmittelchen: eine Tinktur aus Eukalyptusblättern für die Haut oder ein Gebräu aus Wasser, Zucker und Hefe, welches die Mücken fernhalten soll. Man improvisiert in allen Lebenslagen, um zu überleben und diese Extramsituation zu überstehen.
CANAT, das Zentrum, das sich um arbeitende Kinder und Jugendliche in Piura kümmert, hat sofort reagiert – und das, obwohl viele der Mitarbeit und auch das Zentrum selbst unter Wasser standen. Es wurden schon am nächsten Tag Materialen zur Instandsetzung der Dächer der am schlimmsten betroffenen Familien besorgt und in Einzelfällen stand das Team sogar als „Dachdecker“ zur Verfügung denn manche der Kinder leben bei den Großeltern und brauchen tatkräftige Hilfe beim Wiederaufbau. Eine Kampagne zur Unterstützung mit Lebensmitteln läuft und auch Schulmaterial (das ebenfalls dem Wasser zum Opfer gefallen ist) und Präventionsmittel gegen Dengue werden in den kommenden Wochen an über 200 Familien verteilt. Ein Kraftakt – finanziell und personell! Darüber hinaus ist seelischer und psychologischer Beistand enorm wichtig in dieser existenzbedrohenden Lage. Nicht alleingelassen zu sein ist einer der wichtigsten Werte, den es nun zu teilen gilt.
Mai 2023
… bin ich nun schon seit zwei Monaten. Einerseits sehr, sehr glücklich, dass sie mich so schnell wieder in die Arme – und auch in ihr Herz – geschlossen haben; andererseits ein bisschen erschrocken, dass die Zeit so schnell vergeht. Bis hierher waren es intensive Wochen und wir haben schon einiges zusammen durchgestanden. Die ersten drei Wochen nach meiner Ankunft haben uns auf eine harte Probe gestellt denn die wütenden Starkregen haben das Leben aller überschattet – in erster Linie mit Angst! Doch wir haben es zusammen bewältigt und kehren zum „normalen Alltag“ zurück (sofern man das hier in Piura überhaupt so bezeichnen kann, denn jeden Tag passiert etwas Neues und man lernt wirklich stetig dazu).
Doch kaum ist ein Hindernis augenscheinlich überwunden, erscheint ein Neues auf dem steinigen Weg (und ich spreche im doppelten Sinn, denn die Straßen in der Stadt sind ein Desaster; ein Vermächtnis des Regens): DENGUE! Heute lese ich in der Zeitung, dass bereits 4.800 Kinder im Departement Piura erkrankt sind. Es gibt eigentlich keine Behandlung außer Ruhe, viel Flüssigkeitszufuhr und Paracetamol alle acht Stunden. Auch einige vom Team CANAT hat es schon erwischt; und die Krankheit ist wirklich kein Spaß. Deshalb hat CANAT die Familien mit Präventionskits ausgestattet, die Mückenschutz- sowie Desinfektionsmittel und Moskitonetze enthalten. Doch ein absoluter Schutz ist auch das nicht und die „postas“ (ambulante Krankenstationen) haben nur wenige Stunden am Tag geöffnet, sind schlecht ausgestattet mit Personal und Material und sind für manche Familien auf dem Land fast nicht zu erreichen denn auch die Fahrt dorthin kostet Geld (selbst wenn es umgerechnet nur 2 EUR sind).
All diese Sorgen sind an den Nachmittagsstunden mit den Kindern der Ludoteca (Spielstube) im Außenbezirk „Mónica Zapata“ vergessen wenn wir mit dem gelben Taxi von Don Héctor anrücken (manchmal zu acht ins Auto gepfercht – und dann ist immer noch Luft nach oben…) und eine Schar Kinder schon am bunten Zaun wartet, der unser Domizil aus Holzwänden und Wellblechdach umgibt. Sie kommen mit einer unglaublichen Energie geladen. Woher sie diese bei der nicht nachlassenden Hitze nehmen, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht ist es der Reis, der täglich auf dem Speiseplan steht? Oder die pure Lust am Spielen, am Zusammensein, die Neugierde, was wir uns heute für sie überlegt haben!?
In den letzten Wochen haben wir anhand dem Farbenmonster über ihre Emotionen gesprochen. „José Gabriel – wie fühlst du dich heute?“ An der Wand hängt ein „Emotionenmeter“ in vier verschiedenen Farben. Jedes Kind hat eine eigene Wäscheklammer und heftet diese an die jeweilige Farbe seiner heutigen Gefühlswelt: glücklich, traurig, wütend, entspannt. Wie schön, dass das gelbe, glückliche Monster so viele Fans hat! Die eigenen Gefühle zu kontrollieren fällt einigen sehr schwer. Der 9jährige Kenyi zum Beispiel hat dem kleinen Rafa ein Bein gestellt. Er ist böse gestürzt und hat heftig geweint, denn er hat sich offensichtlich das Bein verdreht. Erste Hilfe „mit Nichts“ ist gefragt. Ich habe ihn auf die kleinen Stühlchen gesetzt, das Bein hochgelegt und im Nachbarhaus zwei Wassereis gekauft, um das Bein zu kühlen. Nach einer Stunde, die ich mit Vorlesen überbrückt habe, ist er zum Glück nach Hause gehüpft und hat sich gefreut, auch noch zwei Eis essen zu dürfen. Der Schmerz war verschwunden!
Gerade befinden wir uns in einer ganz besonderen Woche: wir – die drei Freiwilligen aus Spanien, Frankreich und ich aus Deutschland – wollen den Kindern ein bisschen die Welt erklären, denn sie wissen so wenig über die Erde außerhalb von Peru. Also nehmen wir sie mit auf die große Reise nach Europa. Und wir stellen erst einmal klar, dass man dazu fliegen muss, denn kein Mototaxi oder Bus kann diesen Weg überwinden. Und wie aufregend ist die Zeitverschiebung! Davon haben sie ja noch nie gehört. Stimmt das wirklich, dass man in Europa schon schläft, während man hier in Peru noch lustig in der Ludoteca tobt? Sie haben sich einen Tanz und ein Lied aus meiner Heimat gewünscht. Damit kann ich dienen: zusammen mit Raquel, der französischen Freiwilligen, führe ich einen Walzer auf und bitte auch sie danach auf die Tanzfläche. Mit Begeisterung lassen sie sich führen – was sonst eher schwierig ist. Dann packe ich meine Querflöte aus und begleite „Ich + Ich“ bei ihrem Song „So soll es bleiben“. Mit offenen Mündern sitzen sie da und hören zu. Und was mich am meisten freut: die strahlenden Augen, als ich die gelben Sternchen der Mulfinger Sternsinger hervorhole, die mit vielen persönlichen und emotionalen Wünschen an die Kinder in Piura beschrieben sind. Zum Beispiel: „Ich wünsche dir ein glückliches Leben“ oder „Ich wünsche den Kindern, dass sie in eine Schule gehen um lesen und schreiben lernen zu können“. Sie dürfen sich an der deutschen Formulierung probieren – und auf der Rückseite sind die Wünsche ins Spanische übersetzt. Diese werden nun ihren Platz in der Ludoteca finden und die Kinder weiter begleiten. DANKE an Euch Sternsinger!!! Eure Sternschnuppen haben mitten ins Herz getroffen!
Zum Abschluss wird das internationale Buffet eröffnet und die Augen werden immer größer! Meine Weihnachtsplätzchen in Form von Herzchen, zusammengeklebt mit selbstgemachter Mango-Marmelade haben sie überzeugt und ich bin schon verpflichtet worden, bald wieder welche zu backen. Und auch der französische Obstkuchen erfreut sie sehr. Beim streng riechenden Käse jedoch schrecken manche zurück. Und die spanische Tortilla darf natürlich auch nicht fehlen. Diese ist der Klassiker von Maria, die eigentlich überhaupt nicht gerne kocht. Kein Krümel bleibt übrig und in Papierhandtücher eingewickelt tragen sie ihren Proviant nach Hause, um auch ihre Eltern und Geschwister probieren zu lassen. So ist das Leben in Peru: für andere hat man immer etwas übrig; auch wenn man selbst noch so wenig hat!!!
Juni 2023
Das sind die Konditionen, die man in Piura vorfindet – mitten in der Wüstenregion im Norden Perus. Heiß, trocken, staubig. Normalerweise keine guten Bedingungen, um ein Projekt namens „huertos familiares“
(= Familiengärten) aufzuziehen. Doch CANAT ist Meister im Begehen neuer Wege; im Verwirklichen von Zielen, die unerreichbar zu sein scheinen; im Realisieren von Träumen und Visionen!
Diesmal darf ich Teil sein dieser „Zukunftsbauer“. Gaby, die Direktorin von CANAT hat mich vor wenigen Wochen gefragt, ob ich mich einem neuen Projekt annehmen würde um allen Familien von CANAT die Möglichkeit zu bieten, selbst Kräuter und Gemüse anzubauen. Sie scheint wohl inspiriert worden zu sein als sie bei ihrem Europabesuch im letzten Jahr den Garten meiner Familie gesehen hat. Ich bin zwar keine studierte Agraringenieurin – aber mit dem Wissen, das mir meine Eltern in all den Jahren mit auf den Weg gegeben haben, stelle ich mich gerne dieser neuen Aufgabe.
Was bei uns in Deutschland für viele ein Hobby oder ein Ausgleich zum stressigen Alltag ist, das kann für die Menschen hier in Piura unter Umständen mit zum Überleben beitragen. Dort, wo eine Familie nicht mehr als 18 Cent für ein Frühstück investieren kann, wo die Kinder und Jugendlichen die Schule von heute auf morgen nicht mehr besuchen, weil die Familie ohne deren Arbeitslohn selbst dieses Frühstück nicht mehr einnehmen könnte, wo es selbstverständlich ist, ohne Wasser und Strom zu leben, ohne Kühlschrank, Waschmaschine, Dusche und Toilette, dort wo man sich das Haus, das nicht mehr als eine Hütte ist, mit den Hühnern, dem Hund, und unfreiwilligerweise auch mit Mäusen und Ratten teilt – ja genau dort kann ein eigener Tomatenstock, ein paar Kräuter, Bohnen, Mais oder Karotten aus dem eigenen Gärtchen oder vielleicht auch nur einem bepflanzten ausgedienten Autoreifen zu einem ganz besonders kostbaren Gut werden.
Und so bin ich nun mit einem Team aus CANAT-Mitarbeitern dabei, die Bedingungen auszuwerten, das Interesse der Familien auszuloten und zu wecken, die finanziellen Mittel zu kalkulieren und selbst zu experimentieren, welche Samen keimen und was der Hitze in Piura standhält.
Eine kleine Wegbeschreibung, was bisher geschah…
Schritt 1: Seit ich in Piura angekommen bin und leidenschaftlich gerne auf dem Markt hier einkaufe, picke ich alle möglichen Samen aus dem Gemüse heraus und pflanze sie ein. Mit den Tomaten habe ich leider kein Glück (vermutlich zu heiß), aber Papaya, Kürbis, Bohnen und Koriander gedeihen prächtig.
Schritt 2: Das Team von CANAT pflanzt selbst und ich muss feststellen, dass die Vorkenntnisse mehr als gering sind. Hier hat kaum jemand einen Garten und das Bewusstsein gegenüber der Natur ist dementsprechend „anders gewichtet“. Daher rührt auch die furchtbare Kontamination der Umwelt. Es wird für mich also eine mehr als große Herausforderung werden, die Prozesse vom Keimen bis zum Ernten zu vermitteln und zu begleiten. Aber man wächst ja mit seinen Aufgaben… Erste Erfolge sind schon zu verzeichnen; die Samen sprießen und das Team freut sich wie kleine Kinder, die grünen Spitzchen in den eingepflanzten Plastikflaschen zu entdecken.
Schritt 3: Als nächstes wurden die Kinder der Ludoteca in das Experiment einbezogen. Um die ganze Sache etwas attraktiver zu gestalten durften sie ihre abgeschnittenen Plastikflaschen bunt anmalen. Schließlich sind dies die Blumentöpfe die sie dann auch mit nach Hause nehmen dürfen. Am Folgetag haben wir sie mit Erde befüllt und Koriander ausgesät. Was für eine große Begeisterung; und ganz stolz haben sie ihre Werke nach Hause getragen, für die sie nun verantwortlich sind. Als ein paar Samenkörnchen auf den Schotterboden gefallen sind haben sie schnell Erde und Wasser darüber geschüttet in der Annahme, dass hier in wenigen Tagen auch Koriander wachsen wird. Doch diese Illusion musste ich ihnen ehrlicherweise nehmen.
Schritt 4: Was die Kinder können, sollten die Eltern auch beherrschen. Also haben wir in einer Kampagne an drei Tagen die Eltern der Ludoteca-Kinder, aber auch im campo, also auf dem Land, eingeladen und ihnen unser neues Projekt vorstellt. Neben eigenen, gesunden Produkten soll für sie der Benefit auch darin liegen, finanziell entlastet zu werden und ein Projekt zu verwirklichen, das die familiäre Gemeinschaft stärkt. Alle tragen dazu bei, dass geerntet werden kann. Die Eltern waren mindestens genauso stolz und euphorisch, ihren eigenen Koriander und Lauchzwiebeln in ihren Recycling-Übertöpfchen auszusäen. Die Pflänzchen werden gehegt und vor den Hühnern zuhause in Sicherheit gebracht. Womit niemand gerechnet hat: die „grillos“, Heuschrecken ähnelnde Tiere, die Piura gerade wie eine Invasion überfallen, kommen nachts und fressen dreist die jungen Pflänzchen ab. Aber davon lassen wir uns nicht entmutigen!
Schritt 5: Um die Verhältnisse vor Ort etwas besser einordnen zu können haben wir die Familien im campo besucht. Mir war es wichtig, die Erde einmal sehen und anfassen zu können, nach ihren eigenen Erfahrungen zu fragen und zu erfahren, wie es um das Gießwasser, die Lichtverhältnisse, Ungeziefer oder eigene freilaufende Haustiere steht. Stolz hat uns ein Baumwollbauer auf seinen Acker geführt und es haben uns sogar seine Tochter und das 6-monatige Enkelkind begleitet. Es war ihnen eine große Ehre, uns ihren Besitz zu zeigen und das Wissen mit uns zu teilen. Ein Reisbauer hat mir sogar etwas Erde von seinem Acker geschenkt.
Die Motivation für ein eigenen Gärtchen ist mehr als groß und ich bin dankbar und fühle mich auch ein bisschen geehrt, dieses Projekt großziehen zu dürfen. Doch es wird keine leichte Aufgabe. Die Menschen leben auf purem Sandboden. Es muss also erst einmal Erde von ihrem Acker herbeigeschafft werden. Sie haben kein Leitungswasser. Das Wasser, das der LKW einmal wöchentlich bringt ist gechlort und kann nicht direkt zum Gießen verwendet werden. Somit müssen die Menschen das Wasser vermutlich aus dem Kanal herbeischaffen, der die Felder bewässert. Zäune müssen gebaut werden, damit ihre Hühner, Schweine und Schafe das junge Gemüse nicht verzehrt. Aber wir werden Lösungen finden und in wenigen Monaten hoffentlich die erste Ernte einfahren können. Ich werde auf jeden Fall weiter berichten!!!
Juli 2023
„Was ich alles im Dschungel entdeckt habe…“ lautet ein sehr beliebtes Kinderlied, das ich von meiner Rasselbande hier an der Küste Peru’s in Piura gelernt habe. Aus vollem Halse singen sie es; doch die wenigsten wissen, wo denn dieser Dschungel überhaupt ist, wie beschwerlich der Weg dorthin ist, wie die Pflanzen, Tiere und Flüsse aussehen und was man dort so isst. Dabei ist es doch ihr eigenes Land!
In dieser Woche haben wir über ihre Träume, Freuden und Ängste gesprochen, über ihre Rechte als Kind und ihre Erfahrungen, die sie gerne machen möchten. Auf einem der Zettelchen stand geschrieben „Eine Reise mit meiner Familie“. Für viele ein Wunsch in weiter Ferne!
Ich hatte das Glück, die selva – den Dschungel in der Provinz „Amazonas“ - kennenzulernen. Ein junger und engagierter Jesuitenpater – Paulo - wurde von Piura nach „Santa Maria de Nieva“ versetzt. Dorthin, wo es keine Autos gibt, wo man sich mit den klapprigen Mototaxis oder schlicht mit dem Boot auf dem breiten Fluss Marañon fortbewegt, wo ein Schulweg schon mal eine Stunde zu Fuß und mit dem Boot bewältigt werden muss, wo Yucka und Bananen täglich auf dem Speiseplan stehen, wo der illegale Anbau von Kokain den Kleinbauern die Existenz nimmt und Ölraffinerien die Flüsse verseuchen – zugleich aber die Mehrzahl der Urbevölkerung von der Natur abhängig ist – genau dort durfte ich zehn Tage eintauchen in eine Welt, die mit der unseren so überhaupt nichts gemein hat.
Padre Paulo möchte den Kindern einen Ort zum Spielen schaffen – eine „ludoteca“ im Stil von CANAT. Doch er braucht dazu Erfahrungswerte, Ideen und ein Konzept. Deshalb sind Raquel (meine Mitfreiwillige aus Frankreich) und ich Ende Juli nachts um 21 Uhr in den Bus gestiegen um nach 17 Stunden und einer nicht enden wollenden Schotterpiste mit unendlichen Kurven und Schlaglöchern in dieser unglaublichen Welt anzukommen.
Beherbergt wurden wir bei den Jesuiten. Dass mich ein tropisch-feuchtes Klima und auch enorme Regengüsse erwarten werden, wusste ich. Doch mein „Zuhause“ mit Ratten teilen zu müssen und für vier Tage kein Wasser zu haben; zugegeben, das war anfangs schwer zu akzeptieren. Doch irgendwann kam dann der erlösende Regen und wir konnten zumindest wieder sorglos duschen und kochen.
Dank Padre Paulo haben wir in den zehn Tagen unzählige beeindruckende Menschen kennengelernt. Don Eduardo hat uns in seine Parzelle eingeladen, wo wir mit Gummistiefeln, Machete und Lianenkorb auf dem Rücken zur Yuckaernte ausgerückt sind. Mehr als 15kg haben wir durch den Dschungel getragen, was gerade einmal für vier Tage ausreichen wird. Er wohnt mit seiner Ehefrau Teresa direkt am Fluss in einem Holzhaus. Strom gibt es nicht. Ab 19 Uhr dient eine Kerze und zur Ernte morgens um 5 Uhr geht er mit einer Taschenlampe los.
Das Ehepaar Alejandro und Maria leben auf einem Hügel über dem Fluss, der nur über eine kleine, steile, in Erde gehauene Treppe erklommen werden kann. Wie sie das nur schaffen; vor allem wenn man noch Lasten zu schleppen hat und die Erde vom Regen schlammig ist? Dort oben haben sie ihre kleine Hütte, in der auf dem offenen Feuer für uns ein Festmahl zubereitet wurde; in Palmblätter eingewickelter Fisch; ein Hühnchen das über dem Feuer brutzelt und die leckeren Kochbananen mit einem Fruchtsalat. Köstlich! Wir bringen den Nachtisch mit: deutsche Apfelküchle mit Zimt. Besonders die Enkelin Brisseth kann sich gar nicht sattessen und ich schreibe ihr das Rezept auf ein Stück Papier.
Ich lade sie ein, morgen in die Bibliothek der Kirche zu kommen, wo Raquel und ich ein kleines Kinderprogramm anbieten werden. Das lässt sie sich nicht zweimal sagen und es scharen sich circa zehn Kinder um uns. Wir erzählen die Geschichte vom kleinen Ramón, der vor allem Angst hatte. Doch als ihm seine Oma ein Sorgenpüppchen geschenkt hat, konnte er seine Ängste teilen und loswerden. Dieses Püppchen und eine kleine Schachtel dürfen auch unsere Selvakinder basteln und sind so stolz, dass sie diese sogar anschließend mit in die Messe nehmen! Uns bleiben nur wenige Tage, doch die nutzen wir und knüpfen Armbändchen mit den Muscheln, die wir von der Küste in Piura mitgebracht haben. Ein Ort, den diese Kinder wiederum überhaupt nicht kennen! Auch die Tischspiele begeistern sie und zwei Stunden vor unserer Abreise malen wir gemeinsam noch ein Plakat mit Fingerfarbe. Schmetterlinge, die auch noch flattern, wenn wir schon wieder über alle Berge sind; zurück bei „unseren Kindern“ von CANAT.
Was auf den ersten Blick scheint wie ein kleines Paradies, schreibt sehr traurige Geschichten. Fast wie ein „Kavaliersdelikt“ scheinen die zahlreichen Vergewaltigungen von kleinen Mädchen. Oft sind es die eigenen Lehrer, die ein fest vereinbartes „Lösegeld“ an die Eltern bezahlen, die dies aufgrund der bitteren Armut einer Anzeige vorziehen – und diese Straftaten setzen sich ungebändigt fort. Auch die Kindesentführung ist ein großes Problem. Die zwei Völkergruppen „Awajún“ und „Wampis“ stehen sich mit ihren Traditionen, Ideologien und Ritualen bis heute nicht wohlgesonnen gegenüber, was bis zu einem brutalen Mord reichen kann. Diese Welt muss man verstehen lernen und stets mit der erforderlichen Obacht unterwegs sein. Doch mich hat sie fasziniert und das Leben an der Küste für ein paar Tage fast vergessen lassen.
Mit Wehmut reise ich zurück, denn auch diese Kinder habe ich fest ins Herz geschlossen (und ich glaube, sie mich auch, denn zum Abschied haben sie mich dreimal umarmt). Ich hoffe so sehr, Padre Paulo gelingt es, eine „ludoteca“ wachsen zu lassen, die Früchte trägt. Und wer weiß – vielleicht gibt es ja ein Wiedersehen. Fünfzehn Stunden Fahrt sind zwar quälend lang, aber nicht aus der Welt…
August 2023
Ein Pappschild mit dieser Aufschrift ziert den kleinen Garten einer unserer CANAT-Familien. Was vor zwei Monaten mit der Verbreitung unserer Gartenidee in den Treffen mit den Eltern der CANAT-Kinder begann, lässt nun Mitte August die ersten zarten Pflänzchen aus der Erde sprießen und erfüllt mich mit großer Freude! Doch was alles ist bis dahin passiert?
Nachdem die Kinder mit so viel Begeisterung ihre selbstbemalten Blumentöpfchen (wie im Juni berichtet) mit Koriandersamen bepflanzt haben, ging es kurz darauf mit dem „Gartenunterricht“ für deren Eltern weiter. Zuerst wurde unser Projekt „Familiengärtchen“ vorgestellt und unsere Intension verbreitet: eine Aktivität, welche die ganze Familie einbezieht, soll wachsen und letztlich Früchte tragen. Dabei stärken wir das Verantwortungsbewusstsein, denn ein Pflänzchen braucht Aufmerksamkeit und Pflege wie ein Kind. Doch die Mühe wird letztlich mit einer Ernte von eigenen, gesunden und natürlichen Produkten belohnt. Von großer Bedeutung für die Familien ist auch, dabei weniger Lebensmittel kaufen zu müssen. Die meisten plagt die Sorge: „Woher nehme ich das Geld morgen, um alle satt zu bekommen?“ Aus diesem Grund fällt nicht selten der Schulbesuch einem Teller Reis zum Opfer, da man das Fahrgeld zur Schule für den Kauf von Lebensmitteln dringender benötigt. Die Preise einiger Produkte sind enorm gestiegen. Vor wenigen Monaten haben 10 Eier noch 3 Soles (ca. 80 Cent) gekostet; heute bezahlt man dafür 8 Soles (2 Euro). Ebenso verhält es sich mit Gemüse, Hühnchen oder Gas für den Küchenherd.
Als wir dann Anfang August die ersten Samenkörnchen in die Erde stecken, hören die Mamas und Papas aufmerksam zu. Wir fahren hinaus zu den Familien und versammeln uns in Kleingruppen in deren Häusern oder Gärtchen, um zu erklären, wie genau Karotten, Zwiebeln, Paprika, Tomaten, Kürbis, Wassermelone, Lauchzwiebeln und Koriander ausgesät, gegossen und umsorgt werden. Sowohl die Familien in den Vierteln am Stadtrand, wo sich die Ludoteca befindet, als auch die Bevölkerung auf dem Land, die abgeschieden mit ihren Tieren zusammenleben und weder über Strom noch fließend Wasser verfügen, werden in unser Projekt eingebunden. Und genau hier beginnen die Schwierigkeiten: jede Örtlichkeit stellt uns vor eigene Herausforderungen: die Hunde in den Straßen rund um die Ludoteca trampeln rücksichtslos über die frisch eingesäten Gärtchen. Hier muss also auch ein Zaun bedacht werden. Auf dem Land hingegen bringen Tanklaster einmal pro Woche stark gechlortes Wasser, das die Menschen zum Kochen, Waschen, Putzen und Trinken verwenden. Doch unsere Pflänzchen würden damit in kurzer Zeit eingehen. Also muss das Wasser einen Tag zuvor umgefüllt und ohne Deckel „abgestanden“ werden, um es zum Gießen verwenden zu können. Oder: man macht sich auf den Weg zum Kanal, um dort ein paar Eimer mit Wasser zu füllen und diese mühsam nach Hause zu transportieren – zu Fuß, mit dem Esel oder (sofern man hat) mit dem Mototaxi.
Doch all dies nehmen die Familien hin, suchen und finden mit uns Lösungen und sind unendlich dankbar für die Möglichkeit, ihren eigenen kleinen Garten konstruieren und mit Leben füllen zu dürfen. Das Plakat, das jede Familie auf einem Stück Karton entwirft, gibt ihrem kleinen Idyll eine Seele und drückt aus, was es für sie bedeutet: „Wir säen Hoffnung“ – „Säen mit ganzem Herzen“ – „Wir pflanzen, um unser Leben zu stärken“ – „Mit Gottes Segen“ – und „Säen für eine bessere Zukunft meiner Familie“.
Wer kein eigenes Fleckchen Erde rund um sein Haus besitzt, pflanzt in Plastikflaschen, Wäschewannen, ausgedienten Reifen, Plastiksäcken oder alten Eimern. Doch Vorsicht: für die frei herumlaufenden Hühner – sowohl im als auch außerhalb des Hauses – sind die jungen Pflänzchen ein Festmahl. Ein Plastikseiher übergestülpt kann auch hier Abhilfe schaffen. Oder man bastelt eine Blumenampel und hängt den Topf in unerreichbare Höhe. Man ist kreativ – Peru eben!!! Und so lerne auch ich jeden Tag dazu.
Die Vorbereitung des Projekts war mehr als intensiv und hat mich so einige Nächte unruhig schlafen lassen. CANAT hat mir diesen lang gehegten Traum anvertraut, da fast keiner der Mitarbeiter Gartenerfahrungen mitbringt. Doch das Wissen, das ich aus dem eigenen Garten in Deutschland schöpfe, muss ich mit Vorsicht genießen. Völlig andere klimatische Verhältnisse, Bodenbeschaffenheiten, Wasserbedingungen und Gefahrenquellen wie freilaufende Tiere zwingen mich zu tiefen Recherchen, Interviews mit einem Agraringenieur, Besuchen bei Bauern auf dem Land und schlichtweg Gesprächen mit den Familien, die bereits ein Gärtchen bewirtschaftet haben.
Das Resultat all dieser Vorarbeit, erweitert um Pflanzensteckbriefe auf spanisch, ein paar Rezeptideen in schriftlicher Form, hunderten von aus Zeitung gefalteten Pflanzentütchen zur Aushändigung der Samenkörnchen, Koordinierung der Pflanztermine (äußerst kompliziert, denn viele Familien verfügen nicht über ein Handy) – und schließlich gekrönt von ganz viel Engagement, Interesse und Herzblut aller Beteiligten – lässt die Familien kurz vor Weihnachten hoffentlich die ersten eigenen Produkte genießen und zum weiteren Bepflanzen der Gärtchen motivieren.
Und dass an diesen Orten ganz viel Hoffnung gepflanzt wurde, zeigt sich in den Sonnenblumen, die als erstes ihr Köpfchen aus der Erde strecken!!!
September 2023
…doch bis zur Aufführung am 14. Dezember, mit dem das Jahr vor den Ferien beschlossen wird, gibt es noch allerhand zu tun!
Eine große Nummer haben wir uns vorgenommen, denn es ist die erste Erfahrung dieser Art für die Kinder (und für mich als Initiatorin des Musikprojekts – und zugegebenermaßen bin ich auch etwas nervös, ob wohl alles klappt…?). Doch das Gemeinschaftsgefühl, die gefragte Kreativität, das Arbeiten im Team, das Trainieren des Durchhaltevermögens und letztlich der Stolz, ein Ziel zu erreichen und andere mit dem eigenen Können zu begeistern – all das möchte ich den Kindern nicht vorenthalten und ich glaube, es ist eine wichtige und wertvolle Erfahrung, um deren Selbstwertgefühl zu stärken und ihre Talente zu entdecken.
Um die Stärkung des Selbstwertgefühls geht es auch in der Disney-Geschichte von Kión – dem kleinen Enkel des „König der Löwen“, dem es gelingt, seine Freunde - die Gazellen – durch ein furchterregendes Brüllen vor den Angriffen der Hyänen zu schützen und deren Leben zu retten. Die Kinder erleben durch ihre schauspielerische Aufführung das Gefühl hautnah, was es bedeutet, beschützt zu sein oder jemanden zu beschützen. Ein Gut von unsagbarem Wert in ihrem kleinen Leben!
Doch was geschah bisher? Zuerst haben wir zusammen die Geschichte gelesen und über deren Aussage gesprochen. Dann ging es um die Rollenverteilung. Natürlich wollte jede/r in die Hauptrollen schlüpfen: Simba und seine beiden Löwenkinder Kión und Kiara. Doch wir haben uns friedlich geeinigt und eine passende Figur für alle gefunden. Das in der Ludoteca mit Beamer und selbst gemachtem Popcorn inszenierte Kino war ein Highlight; denn ein solches Erlebnis können sich die Eltern hier nicht leisten. Mit offenen Mündern saßen sie vor der Stoffleinwand und verfolgten das Original-Musical des „König der Löwen“, um inspiriert zu werden für die Gestaltung der Kostüme. Niemand hatte je zuvor von einem Musical gehört. Diese reichen nicht bis nach Peru – und schon gar nicht bis in die Welt der Kinder von CANAT. Der Film half, eine Idee zu haben, was sie genau erwartet in den nächsten Wochen.
Nun galt es, eine Kulisse zu gestalten. Da CANAT in diesem Jahr seinen 25. Geburtstag feiert, sollte eine Verbindung zwischen dem Musical und diesem Jubiläum stehen. Die Kinder haben ihre Fantasie zu Papier gebracht und wir Erwachsenen haben ihre Zeichnungen auf ein großes Tuch übertragen, das sie mit bunten Farben zum Leuchten gebracht haben. Ein Foto davon gebe ich frei – mehr wird erst später verraten…
Weiter geht es mit den Instrumenten! Neben dem Gesang der Kinder sollen natürlich auch Klänge und Geräusche zu hören sein. Mit Plastikflaschen und Pappmaché lassen sich tolle Rasseln fabrizieren. Ein Spektakel – das mantschen in der Masse aus Eierschachtelschnipseln, Wasser, Kleber und Mehl. Die Sauerei groß – der Spaß noch größer!!!
Und was folgt dann? Darüber werde ich das nächste Mal berichten…
Doch eines liegt mir noch am Herzen: unseren ersten Mülleimer auf dem Spielgelände der Ludoteca zu präsentieren. Es ist unglaublich – aber nach über 10 Jahren, in denen die Ludoteca im Viertel von Mónica Zapata nun existiert, gab es noch nie einen Kübel, um die vielen Plastikflaschen, Kekspapierchen, Schuhsohlen, Babywindeln, Tassenscherben, rostigen Draht oder Glassplitter zu entsorgen (ja – all das findet sich tatsächlich auf dem Spielfeld im Sand, wo dutzende von Kinder täglich, z.T. barfuß, spielen). Zahlreiche Müllsammelaktionen haben wir schon durchgeführt und wenige Tage danach sah es wieder genauso aus. Das konnte ich wirklich nicht länger mit ansehen – habe kurzerhand drei Reifen organisiert, diesen zusammen mit meiner Mitfreiwilligen Leonie einen Anstrich verpasst und am Spielfeldrand platziert. Der kleine Dencel war ganz euphorisch und hat eifrig nach Müll gesucht, um diesen in die neue „Tonne“ zu werfen. Dass Müllentsorgen so viel Spaß machen kann, hätte ich nie gedacht!
Doch was mich skeptisch gestimmt hat: Dencel fragte mich, als er die schönen bunten Reifen sah: „Und was, wenn jemand die Reifen klaut?“. Gute Frage, Dencel! Daran habe ich im Leben nicht gedacht, obwohl diese Bedenken mehr als angebracht sind. Ich habe eine Runde gedreht, die Nachbarn über das neue „Schmuckstück“ und deren Funktion informiert und höflich darum gebeten, dieses Objekt im Auge zu behalten, zu benutzen und auch für die Leerung zu sorgen. Ich habe eifrige Zustimmung geerntet. Mal sehen, ob sie ihr Wort halten. Doch die Kinder haben es so sehr verdient, in einem sauberen, gesunden und sicheren Umfeld aufzuwachsen – und dafür müssen alle mitwirken. Und so schaffen wir vielleicht auch einen kleinen Schritt hin zum Schutz der Umwelt und unseres Planeten!!!
Oktober 2023
Jetzt wird es höchste Zeit, dass ich auch die kleinen Fischerkinder von La tortuga ins Spiel bringe – denn schließlich fahre ich nun schon seit Monaten zu ihnen und wir verbringen alle zwei Wochen die Samstage miteinander.
Und wieder einmal ist alles Gaby, der Direktorin von CANAT zu verdanken. Als kleines Kind war sie selbst vor Jahrzenten mit ihren Eltern im abgelegenen Fischerort zu Besuch; völlig abgeschnitten von der restlichen Welt; 70km von Piura entfernt fährt man durch eine nicht enden wollende Wüste und erreicht dann plötzlich diesen Ort am Pazifik, wo die mächtigen Holzschiffe in Monate dauernder Handarbeit gefertigt werden und für den Lebensunterhalt der Familien verantwortlich sind, denn fast jede Familie lebt hier von der „pota“ – also vom Fischfang. Doch nicht alle können sich diese enormen Boote leisten. Für mich bis heute unbegreiflich ist es, wie man (als Nichtschwimmer!) mitten in der Nacht in den tosenden Pazifik hinausfahren kann – um mit ein paar Kisten Fisch zurückzukommen, der die Familie ernähren muss, die hier oft sehr kinderreich ist. Mit 12 Jahren ist es keine Seltenheit, dass auch die Söhne mit dabei sind – und zwar als Matrosen; nicht als Besucher oder Vergnügungspassagier.
Tja, und genau das prägt das Leben der Kinder hier. Sie werden hineingeboren in die Welt des Meers. Die Söhne werden bereits als Fischer geboren – die Töchter helfen der Mutter im Haushalt und der Küche; nehmen den Fisch aus und bereiten ihn zu, waschen die Wäsche (wohlgemerkt von Hand) und werden oft schon mit 15 Jahren selbst Mutter. Eine andere Welt lernen sie nicht kennen. Die einzige Abwechslung ist die Schule, eine Fußballpartie im kleinen Stadion im Ort, der Besuch der Messe und natürlich der Besuch von Gaby im gelben Taxi von Don Héctor, gefüllt mit einer Schar von Freiwilligen von CANAT, die sich jedes Mal etwas Schönes überlegen, was den Kindern am Vormittag am Strand und dann am Nachmittag in der Ludoteca (Spielstube) viel Freude bereiten könnte.
Wir sammeln so viele Kinder ein, wie wir können (Rekord waren tatsächlich 18 Personen im kleinen Taxi) und fahren ca. 5km bis zu „unserem Strand“, der wirklich nur uns gehört. In einer kleinen Felshöhle bereitet Gaby die Guacamole zu während wir mit Bällen, Muscheln, Treibholz oder einfach im Wasser spielen. Die Jungs stellen sich mit einem Nylonfaden und einem einfachen Köder auf die Klippen und fangen Fisch. Das machen sie mit drei oder vier Schnüren gleichzeitig, die sie sich um die Taille binden. Beeindruckend – sie sind Meister in ihrem Universum und jeder Handgriff sitzt. Die Mädchen nehmen den Fisch auf den Klippen aus und bereiten ihn als Ceviche zu (roher Fisch, mariniert mit Limettensaft und verfeinert mit Zwiebeln, Koriander und Salz). Dafür lassen die Kinder jedes Stück Schokolade achtlos liegen. Um ein großes Tuch versammelt wird das Picknick dann zelebriert und alles wird gerecht geteilt. Brav sitzen alle auf ihren Knien und warten ab, bis sie ihre Portion in der Hand halten – und manchmal verschenkt ein Kind seine Leckerei an das kleine Geschwisterchen. Das macht mich wirklich glücklich und rührt das Herz an – denn die Kinder in der Ludoteca von CANAT haben genau diese Eigenschaft an sich noch nicht entdeckt.
Nach dieser Zeremonie sammelt und Don Héctor dann wieder ein und bringt uns zur Ludoteca im Ort zurück. Dort warten dann Märchen, Kreisspiele oder Basteleien auf die Kinder und es kommen noch weitere mit dazu, die am Strand nicht mit dabei sein konnten. Ganz stolz sind sie auf das, was sie selbst mit ihrer Kreativität erschaffen haben und dann auch mit nach Hause nehmen dürfen. Ganz andächtig fragen sie oft nach einem Stück Papier für zuhause, um auch dort noch ein bißchen weiterbasteln zu können. Und jedes Mal kommt die Frage: „Wann kommt ihr wieder?“ In 14 Tagen – und dann tragen wir wieder ein Stück von der großen weiten Welt in eure eigene, kleine Welt hinein, die wirklich nur das Meer, die Boote, die Fischerei und den Strand kennt. Genau das ist es auch, was sie auf ihren Zeichnungen widerspiegeln. Und das letzte Mal hat Roxana von einem Land erzählt, in dem Sterne vom Himmel fallen, ins Meer krachen und Boote zerstören. Doch in Wahrheit war es kein Stern sondern ein Marschflugkörper, der ein russisches U-Boot traf. Doch von diesem Krieg haben die Kinder dort noch nie etwas gehört…
November/ Dezember 2023
Lange war Funkstille auf mit meinen Berichten aus Peru – doch das hatte seinen Grund. Ich strenge mich an, damit es hier nicht in einen Roman ausartet, denn die Ereignisse der letzten Wochen haben sich fast überschlagen.
Ein bisschen habe ich ja schon verraten von unserem großen Projekt – von einer Vision, die tatsächlich Wirklichkeit wurde; dank ganz viel Engagement, Enthusiasmus, Kreativität, Fleiß und dem starken Willen, etwas ganz Besonderes miteinander auf die Beine zu stellen.
Und so haben wir (das Team der ludoteca, bestehend aus zwei Eliana und Cinthia, den beiden Leiterinnen, der Musiklehrerin Karen, die uns in dieser Zeit unterstützt und die Kinder mit den Gesängen und Tänzen begeistert hat sowie einer Gruppe von Freiwilligen) zusammen mit 40 Kindern zwischen 6 und 12 Jahren seit September Kulissenbilder gemalt, Kostüme und Masken gebastelt, Rasseln fabriziert, Gesänge und Tänze einstudiert, handgemalte Einladungskarten kreiert und dabei gelacht, geschwitzt, gefiebert, ab und zu gebangt aber vor allem ein unheimliches Gemeinschaftsgefühl gespürt!
Was wir in diesen Wochen erlebt und dann letztlich vor großem Publikum präsentiert haben, bleibt für uns alle unvergesslich. Und ich habe gespürt, wie die Kinder (und darunter sind wirklich einige Rabauken!!!) aufeinander geachtet haben, sich gegenseitig geholfen und respektiert haben, schon die Lieder pfeifend zur Übungsstunde gelaufen sind und darum gebeten haben, den Liedzettel auch mit nach Hause nehmen zu dürfen, um fest üben zu können. Der Wille, all die Mühe und das Engagement mit Stolz auf der Bühne in Form eines wunderbaren Musicals präsentieren zu dürfen, war enorm!
Und dann ist er gekommen: der 14. Dezember – Tag der Aufführung, an dem wir die kunstvollen Kostüme vorsichtig aus den Schachteln genommen und die Tiere zum Leben erweckt haben: Löwen, Elefant und Ameise, Giraffe, Hyänen, Gazellen, Nilpferd, Gepard, Dachs, Reiher und Geier sowie Affen wuselten über den Innenhof von CANAT. Alle Kinder und ihre Familien waren ins bunte Zentrum von CANAT direkt neben dem Markt eingeladen worden. Mit Bussen haben wir sie abgeholt und schön gekleidet sind sie angekommen, voller Neugier und Spannung. Ein feierlicher Akt, um ein bewegendes Jahr vor den bis März andauernden Sommerferien abzuschließen, um nochmals an all unsere Projekte zu erinnern, auch an die schlimmen Regenfälle zu Jahresbeginn. Dies veranlasst auch dazu, mit den Familien an diesem Tag einen Notfallplan für eine möglicherweise sich wiederholende Katastrophe zu erstellen. Prävention gibt Sicherheit und ist die Basis, um schnell reagieren zu können.
Und dann ertönt das Lied vom „Lebenskreis“. Die Bühne wird bunt und fröhlich. Mit einer kleinen Band begleiten wir die Lieder und unser Publikum verfolgt das Szenario mit offenen Mündern und großen Augen. Die Geschichte nimmt ihren Lauf und Erzählung, Tanz und Gesang wechseln sich ab. Unsere kleinen Darsteller sind voll in die Welt von Simba und seinen Freunden eingetaucht. Mit ganzer Emotion drücken sie in ihren Bewegungen und Liedern ihre Begeisterung und auch ihren Stolz aus. Mit „Hakuna Matata“ schließen wir die Reise ins Land der Phantasie – vergiss all die Sorgen, lebe den Moment und freue dich des Lebens. Die Tiere hüpfen und tanzen über die Bühne und die älteren Kinder umrahmen diesen Moment als Schilfgras verkleidet mit ihren Gesängen und sich im Wind wiegenden Bewegungen.
Ein großer Applaus belohnt uns für jede einzelne Minute, jeden Gedanken und all das Engagement, das in diesem grandiosen Projekt steckt, vor dem wir zu Beginn ein klein wenig Angst hatten, die es sich aber gelohnt hat, zu überwinden. Und eines ist sicher: diesen Augenblick des Stolzes werden die Kinder von CANAT niemals vergessen (… und ich ebenso wenig…)!!!
Dieses Projekt konnten wir dank vieler Spenden realisieren; ganz markant auch durch das von meinen „Chanson-Nouvelle“-Chorfreunden veranstaltete Konzert am 2. Dezember. Dafür an ALLE von ganzem Herzen DANKE! Und ein kleines Dankeschön und gleichzeitig Weihnachtsgeschenk konnten wir den Kindern auch noch mit auf den Weg geben: eine Stofftasche mit ihrem Namen beschrieben sowie ein kleines Märchenmalbuch. Denn sie haben so viel Freude an andere verteilt, dass sie auf jeden Fall auch zu ihnen zurückkehrt!
Weihnachten 2023
In der Tat – es war ein ganz außergewöhnliches und einmaliges Weihnachten, an dem ich von allen deutschen Bräuchen und Traditionen ablassen musste. Doch ich haben ihn entdeckt – DEN Weihnachtsmoment, der mich mitten ins Herz traf! Wo? Dort, wo das Leben niemals stillsteht, wo es vermutlich am härtesten zuschlägt, wo manche nur passieren und andere den Großteil ihres Lebens verbringen, wo man gibt und empfängt, wo man lacht aber auch laut schreit, wo man vor Beeindruckung staunt oder vor Erschütterung weint:
Auf dem Markt – dem Herzen von Piura.
Den ganzen Tag habe ich mit einer Freundin am 24. Dezember bei ca. 40°C in meiner kleinen Küche Plätzchen gebacken. An die 200 Stück dürften die drei Sorten ergeben haben. In liebevoll verzierte Tütchen (aus Papier, um wenigstens 40 Plastiktüten einzusparen, die man später vom Winde verweht in allen Ecken wiederfindet) eingepackt sind wir dann in der Nacht des Heiligen Abends auf den Markt spaziert – beladen mit den süßen Keksen und kleinen Spielzeuggeschenken. Die Beschenkten sollten arbeitende Kinder und Senioren sein, die vom großen Fest der Geburt des kleinen Jesuskindes nicht viel spüren, denn in ihrem Leben gibt es für diese Annehmlichkeiten keinen Platz. Wer nicht arbeitet, verkauft nichts, und wer nichts verkauft, hat nichts zu essen. So einfach ist das!
Ich war wirklich erschüttert – und obwohl mir der Markt so vertraut ist und ich fast täglich in diesem chaotischen, lauten, schmutzigen und so ursprünglichen Wirrwarr unterwegs bin, hätte ich nie im Leben erwartet, so viele Menschen mitten in der Dunkelheit anzutreffen. Ich hatte wirklich gedacht, dass an diesem einen Tag im Jahr jeder zuhause sein möchte, um Zeit mit seiner Familie zu verbringen; auch wenn der Tisch vermutlich nicht besonders reichhaltig gedeckt ist und die große Mehrheit kein Geld hat, um sich den bedeutenden Panettone zu kaufen. Doch offensichtlich spielt das Datum keine Rolle. Hier MUSS verkauft werden, um zumindest eine Portion Reis verzehren zu können – im besten Fall mit etwas Hühnchen oder Fisch.
Ich hatte Mühe, meinen Blick auf die Kinder und Senioren zu lenken, denen wir etwas überreichen wollten, denn die Beleuchtung ist schlecht zwischen den Ständen aus Holz und Pappe, überdacht mit Stofffetzen oder Wellblechstücken, laut schreiend um ihre Ware anzupreisen oder still in einer Ecke auf dem Boden sitzend. Man findet Kinder mit Körben, die etwas Brot oder Süßigkeiten zu verkaufen oder auch Lastenschlepper für die Kunden mit größeren Einkäufen. Aber man findet auch ganz viele Kinder, die ihre Mama begleiten, die etwas Essen oder Getränke verkauft. Einige Kinder lagen zu ihren Füßen und haben geschlafen – es war ja auch schon spät.
Alte Menschen, die in Deutschland schon lange ihre Rente (oder vielleicht auch eine Grundsicherung) beziehen würden und nicht mehr arbeiten müssen, sind hier durch die Armut ebenso gezwungen, jeden Tag auf’s Neue für ihr ÜBERleben arbeiten zu gehen. Doch wie ist das möglich, wen man nur ein paar Bonbons verkauft (6 Stück für 25 Cent) oder ein kleiner Kräuterbüschel mit Minze ebenfalls für 25 Cent?
Genau diese Menschen haben mir das größte Weihnachtsgeschenk gemacht, das ich vermutlich je erhalten habe: ihre tiefe Dankbarkeit, die ihre Augen ausgedrückt haben und die spontane und herzliche Umarmung einiger Kinder, die eine solche Überraschung selbst an Weihnachten nicht erwartet hätten. „Bendiciones“ – „Gottes Segen“ gibt uns ein Kind mit auf den Weg! Das geht ins Herz und dieser Moment bleibt unvergessen!
Am nächsten Tag ein Ausflug mit den Patienten der Psychiatrie, bei dem der einzige Wunsch von Orfelinda eine Mango war, die im Ort Chulucanas tausendfach wachsen – unserem Ziel der kleinen Reise. Selbstverständlich erfüllen wir ihr diesen Wunsch; und sie ist so glücklich und schiebt diese golden reife Frucht in ihre Tasche. Mario, der im Rollstuhl sitzt, schafft es an diesem Tag sogar, zwei Schrittchen zu laufen; so voller Euphorie steckt er!
Am 26. Dezember dann unser Besuch in La tortuga – bei den kleinen Fischerkindern. Oh, wie strahlen sie, als wir ankommen. Normalerweise sind wir ja immer samstags dort. Doch an Weihnachten erlebt man manchmal eben auch eine unerwartete Überraschung. Wir haben kleine Märchenmalbücher und Stifte verpackt und lassen sie ihre Geschenkchen angeln. Das beherrschen sie schließlich von der Pike auf! „Dürfen wir das wirklich mit nach Hause nehmen?“ fragen sie ganz schüchtern. Aber selbstverständlich!!! Doch zuvor teilen wir noch den Panettone, auf den sich die peruanischen Kinder schon Wochen vor Weihnachten freuen. Nicht in allen Familien steht er so selbstverständlich auf dem Tisch - doch heute bekommen alle ein Stück ab - und das Herz hüpft nochmals etwas höher!
Am nächsten Tag dann der schmerzhafte Abschied von meiner französischen Mitfreiwilligen Raquel, mit der ich so viele Projekte, kleine Träume und große Herausforderungen meistern durfte. Zeit, die geprägt hat und eine neue Freundschaft geformt.
Dann der letzte Arbeitstag bei CANAT – ein „ADIOS“, verknüpft mit vielen Emotionen, denn es war ein Jahr mit Höhen (unser Gartenprojekt, das Musical, die Unterstützung vieler Jugendlichen beim Abschluss einer Ausbildung, dem offenen Ohr für jede einzelne Familie von CANAT mit all ihren persönlichen Sorgen) und Tiefen (den katastrophalen Verhältnissen durch die Starkregenfälle, heftige Dengue-Erkrankungen, die vielen Menschen das Leben gekostet hat und Momenten, in denen die Aufgaben größer zu sein scheinen als die Kraftreserve, die man verspürt). All das schweißt zusammen – und lässt uns die Arbeit gestärkt fortführen im Februar 2024.
Januar 2024
Wie oft schon habe ich in der ludoteca von CANAT gedacht: es sind zuviele Kinder auf einmal, die Zuwendung, Aufmerksamkeit und Unterstützung in den einzelnen Aktivitäten aber auch im einfachen Miteinander brauchen. Es ist laut, umtriebig und manchmal schlichtweg unmöglich, knapp 30 Kinder auf einmal zu bändigen und sie individuell anzuhören und zu fördern. Einzelne „Umtreiber“ genügen, um mal wieder vom in der Theorie fein ausgedachten Plan abzuweichen und zu improvisieren, um die Bastelei, das Lied oder das Spiel bestmöglich umzusetzen. Jedes einzelne Kind bringt seine Emotionen und Geschichten mit; manche haben kein behütetes, geordnetes, ruhiges und kindgerechtes Zuhause. Schroffe Umgangsformen, mangelnde Aufmerksamkeit und Zuwendung, ständiger Lärm, enorme Hitze in den Häusern bzw. Wohnhütten, manchmal sogar häusliche Gewalt oder stundenlanges Alleinsein prägen die kleinen Wesen und äußern sich entsprechend in ihrem Verhalten.
Und nun auch noch drei endlos erscheinende FerienMONATE in ganz Peru, in denen auch die Aktivitäten in der ludoteca von CANAT pausieren. Ich gebe es ehrlich zu – mir taten die Kinder leid! Das Team von CANAT verdient durchaus einen Monat Urlaub. Die restlichen 11 Monate werden nonstop durchgearbeitet. Zwei der Ferienmonate nutzt das Team zur internen Organisation, Jahresplanung, Einschreibung der neuen Teilnehmer usw.
Für mich nun endlich die Gelegenheit, mich individuell um die Kinder zu kümmern, die sonst wirklich vergessen scheinen. Ein Kinderferienprogramm, Angebote von Sport- oder Musikvereinen oder andere Jugendtreffs gibt es hier nicht – und wenn, dann sind sie kostenpflichtig und nur im weit entfernten Stadtzentrum zu finden.
Angefangen hat alles mit den Kindern der CANAT-Mitarbeiter. Sie mussten im Januar noch einige Tage arbeiten und ihre Kinder hatten schon Ferien – wären also allein zuhause gewesen. Warum die Kinder nicht mitnehmen und im schönen, weitläufigen und bunten Zentrum von CANAT drei Vormittage miteinander verbringen? Meine beiden Mitfreiwilligen Elias und Leonie waren sofort begeistert von der Idee – die Mamas und ihre Kinder auch! Und so haben wir zusammen Pizza und Plätzchen gebacken, den Webrahmen als neue Lieblingshandarbeit entdeckt, Armbändchen fabriziert, Origami gefaltet, eine Schatzsuche veranstaltet und aus alten Autoreifen einen bunt angemalten Mülleimer kreiert, den wir den Straßenhändlern vor der Tür von CANAT – zusammen mit unseren selbstgebackenen Plätzchen – geschenkt haben, und dafür sogar spontanen Beifall geerntet haben. „Warum können wir nicht an mehr als nur drei Tagen mit euch zusammen sein?“ haben uns die Kinder zum Ende gefragt. Das war das größte Kompliment, das sie uns hätten aussprechen können. Diesem sehnlichen Wunsch konnte ich nicht widerstehen und habe für sie einen weiteren Tag im Februar organisiert.
Dann ging es weiter zur „eigentlichen Baustelle“ – den ludoteca- Kindern von CANAT, die ich in ihrem zuhause besucht habe; all das benötigte Material zum Weben, zum Selbstgestalten von Memory-Kärtchen oder für eine Runde „UNO“ bzw. „Mensch-ärgere-dich-nicht“ in einer großen Tasche im Schlepptau. Oh – wie waren sie selig! Die reinsten Engelchen. Sechs bis acht Kinder um einen Tisch versammelt (Stühle haben die wenigsten Familien in dieser Anzahl – aber das stört uns nicht), hochkonzentriert, interessiert und derart solidarisch! Sie helfen sich gegenseitig, fragen höflich und erinnern sich sogar an die Worte „bitte & danke“, was ich in der ludoteca so oft eingefordert habe. Hier habe ich tatsächlich die Früchte der Arbeit im letzten Jahr reifen sehen und mich so sehr gefreut! Nicht nur die Kinder – auch die Mamas haben bei jedem Abschied gefragt, wann ich denn wiederkommen würde! Gleich nächste Woche – mit vielen neuen Ideen in meiner großen Tasche!
Ein weiteres Versprechen möchte ich noch unbedingt einlösen: entgegen aller Warnungen meiner „peruanischen Familie“, auf keinen Fall die gefährliche Straße zwischen Flughafen und Friedhof – ganz in unserer Nähe – zu passieren, fahre ich dort täglich mit meinem Fahrrad durch, denn die schönen Sträucher und Bäume, die dort vor den Häusern blühen, sind ein Genuss, in den man sonst in dieser staubigen, von Müll überladenen und lauten Stadt kaum findet. Und JEDEN Tag (das ist wirklich wahr!) haben mir die Kinder dieser Straße zugewunken. „Hello“ haben sie mir zugerufen in der Annahme, ich käme aus den USA. Europa kennen sie nicht; alle hellhäutigen sind automatisch „gringos“ und sprechen englisch. Das habe ich schnell klargestellt und sie haben mich immer wieder zum Fußball- oder Volleyballspiel in der Straße eingeladen. Doch meist hatte ich es eilig und habe auf die Schulferienzeit vertröstet: „Dann besuche ich euch, bringe viel Zeit und etwas zum Spielen mit“. Einverstanden. Und jedes Mal bei der Durchfahrt haben sie mich wieder daran erinnert. Versprochen ist versprochen – und nun habe ich ungefähr 20 kleine Freunde in meinem Viertel, die schon von weitem Rufen „La Alemana“ (die Deutsche) wenn ich anrücke, ein grünes Stofftuch in der Tasche, das wir auf dem Gehweg ausbreiten und uns im Kreis versammeln, um UNO, Yenga oder Memory zu spielen. Diese Freundschaft ist etwas Unbezahlbares und ich spüre, wie ich einen Platz in ihrem kleinen Leben einnehmen darf. Ein unheimlich schönes Gefühl!
Doch damit nicht genug: Da sind noch die Kinder von „Nuevo Gredal“, an die sonst niemand denkt. Weit abgelegen im Außenbezirk der Stadt – einem Wüstenviertel gleich ohne Wasser und Strom – haben sich hier im Jahr 2017 ca. 50 Familien niedergelassen, die durch die Regenkatastrophe „El Niño“ wirklich alles verloren haben. Bis heute leben sie hier in ihrem Bretterhütten und sind von erneuten Regenfällen nicht wirklich besser geschützt – doch es ist eine neue starke Gemeinschaft entstanden! Gaby, die Direktorin von CANAT, hat auch für diese Menschen in ihrem großen Herzen einen Platz gefunden und so konnten wir Freiwillige diesen ganz einzigartigen Ort kennenlernen. Ein ganz besonderes Projekt haben wir mit den Kindern und einem sehr engagierten Familienvater realisiert: Töpfern mit Ton, der hier direkt aus der Natur bezogen wird. Gebrannt haben wir alles im selbst konstruierten Erdloch-Ofen. Und damit das Feuer auch brennt mussten wir zusammen Feuerholz mit der Machete sammeln, Backsteine und Tonscherben heranschleppen und den umliegenden trockenen Kuhmist einsammeln, um unsere Brennstücke gut zuzudecken. Alle waren mit Feuereifer dabei und die Krönung natürlich das bunte Bemalen der kleinen Tontässchen, Teller oder Figürchen. Als es genau in der Nacht, in der wir alles gebrannt haben, anhaltend geregnet hat, blieb mir fast das Herz stehen. Das darf nicht wahr sein – ist die ganze Arbeit umsonst gewesen? Nein – unsere Handarbeit in bester Qualität war bereits ausreichend gebrannt und hat die Dusche gut überstanden. Und so werden wir auch in „Nuevo Gredal“ Woche für Woche mit offenen Armen erwartet, um uns unter den Bäumen auf dem Sand niederzulassen und schöne, kreative und unheimlich erfüllende Stunden mit den Kindern zu verbringen.
Und zu guter Letzt: meine Freunde – die Patienten der Psychiatrie von „San Juán de Dios“. Ebenfalls den Ferien geschuldet hat das Personal für die Therapiestunden den ganzen Januar über frei. Doch wer beschäftigt sich mit den Patienten und vertreibt ihnen die freie Zeit, in der sie sonst auf ihrer Bank sitzen und in die Luft schauen würden? Mit meinen Bastel- und Spielideen für die Kinder konnte ich auch ihre Gemüter erhellen und so haben wir Perlenarmbänder aufgefädelt (ihre Lieblingsbeschäftigung!!!), gewoben, Mobile und kleine Tierrasseln gebastelt oder Märchen erzählt. Ihre Welt spielt sich hinter den Mauern der Psychiatrie ab und die Welt muss zu ihnen zu Besuch kommen. Und ihre Welt ist wirklich etwas Wunderbares, denn jeder Moment bleibt ihnen in Erinnerung und löst noch Wochen danach ein Lächeln aus, wenn sie davon erzählen!
Dasselbe wünsche ich mir auch: dass all diese bewegenden Momente und Begegnungen immer Teil meiner Erinnerungen bleiben und die Menschen, die hier meinen Weg so sehr prägen, immer einen Platz in meinem Herzen haben werden!
Februar 2024
Eigentlich hatte ich keine große Reiseabsichten vor meinem Abschied aus meinem Leben hier in Piura denn jede Minute ist ein Geschenk, die ich mit den Menschen hier teilen darf. Doch dann hat mir Gaby, die CANAT-Direktorin, von Padre José Antonio erzählt, einem Jesuiten, der in den Zentralanden Perus seit 14 Jahren das Projekt „Kusi Ayllu“ führt. Er lebt und arbeitet mit und für der Andenbevölkerung in über 3.000 Metern ü.d.M. und kümmert sich um zwei ludotecas (Spielstätten für Kinder und Jugendliche), Armenküchen für Senioren, Landwirte und deren Projekt von Gewächshäusern, Kunsthandwerkern und deren Verkauf von sagenhaften Steinarbeiten und Webstücken und zu alledem betreibt er selbst einen großen Garten in dem er Mais, Selerie, Salat, Rote Bete, Lauchzwiebeln, Kräuter, Kohl und mehr anbaut, Hühner und Meerschweinchen hält, Kompost produziert und getrocknete Kräuter vermarktet. Seine Ernte dient den Armenküchen und spart enorme Investitionskosten. Nebenbei feiert er die Messe in der kleinen Ortskapelle und hat für alle ein offenes Ohr. Ein Mensch, den man ab der ersten Sekunde ins Herz schließt und für all sein Tun bewundert. Ja – in ihm wirkt Gottes Wort!
Da CANAT die ludoteca erst im April öffnen wird, habe ich mich entschlossen, diesen beeindruckenden Menschen in der Nähe von Ayacucho kennenzulernen, wo in der 1980er Jahren tausende von Menschen Opfer der grausamen Terroreinheit „Sendero Luminoso“ geworden sind. Ganze Dörfer wurden ausgelöscht und die Wunden in den Seelen der Menschen sind bis heute nicht verheilt.
Was ich im Ort „Pampa Cangallo“ in nur fünf Tagen erleben durfte, greift tief und bleibt unvergessen. Obwohl auch hier die Projekte erst nach den Ferien im März wieder in Betrieb gehen, durfte ich das unglaublich engagierte Team von „Kusi Ayllu“ kennenlernen, sie in der Armenküche besuchen, in der unter primitivsten Umständen mit Holz täglich 50 Essen gekocht werden. Ich war in einem Treffen der Handwerker dabei als wir – umgeben von Schweinen und Hühnern mit Blick ins tiefe Andental – nach einer Strategie gesucht haben, um ihre Arbeiten in die weit entlegenen Touristenorte zu bringen, um deren Familieneinkommen zu sichern. Für ihre Kinder soll ein Gemeinschaftsraum errichtet werden doch wie soll das benötigte Fenster in dieser bitterkalten Region bezahlt werden? Sie wollen am nächsten Wochenmarkt einen kleinen Stand organisieren und ihre Werke dort verkaufen.
Ein weiteres Treffen mit den Bauern, deren Ort wir mit dem Pick-up von Padre José in Dunkelheit bei Regen auf kleinsten, furchentiefen Wegen nur schwer erreichen, hinterlässt einen ganz besonderen bleibenden Eindruck. Durch den Matsch gehen wir hinauf zu einer kleinen Hütte. Ich hatte vermutet, dass die Besprechung in einem kleinen Gemeinderaum stattfinden wird. Doch da lag ich weit entfernt… Wir betreten eine spärlich beleuchtete Hütte und gleich rechts der Eingangstür, im unbeheizten Ess-, Wohn- und Schlafzimmer in einem, liegt Señor Faustino. Ein Mann, ca. 70 Jahr alt, bedeckt mit mehreren Wolldecken, einer warmen Mütze auf dem Kopf, die Hände auf der Decke liegend und uns wohlwollend begrüßend. Diese Hände beschreiben ein Leben, das geprägt ist von schwerer Arbeit, von einem Leben in Armut und Kälte, von einem stetigen Kampf, in dieser abgelegenen Welt hoch oben in den Bergen bestehen zu können. Interessiert fragt er, woher ich komme, wie das Leben in meinem Land ist, was man dort anbaut und isst, ob es dort auch Berge gibt und vielleicht sogar Schnee? Seine Frau bietet Padre José, mir und den anderen anwesenden Bauersfrauen eine heiße Tasse Muña-Tee an, die meinem eiskalten Körper wieder Leben einhaucht. Dieser Kälte ohne Heizung, ohne warmem Wasser, ohne Daunenjacken und gefütterten Winterschuhen standhalten zu können ist wirklich eine fast unzumutbare Herausforderung – zumindest gemessen an unserem komfortablen deutschen Lebensstil. Alle versammeln sich um das Bett von Señor Faustino und besprechen die feierliche Taufe der Quinoa-Erntemaschine, die durch einen enormen Kraftakt gemeinsam angeschafft wurde. Außerdem sollen nach Ende der Regenperiode die Fundamente für ihre Gewächshäuser gemauert werden. Dafür wird Lehm verwendet, den die Bauern selbst aus der Erde graben. Mahnend weißt Padre José darauf hin, ab sofort Buch zu führen über den finanziellen Einsatz von Saatgut und dem Erlös aus Verkauf der Ernte. Das haben die Bauern, die zumeist die Andensprache „Quechua“ sprechen und nicht selten gar nicht lesen und schreiben können, bisher sehr vernachlässigt. Doch ohne eine gewisse Kontrolle lässt sich einfach nicht wirtschaften!
Als wir uns dann verabschieden, fragt Faustino, wann die junge Señorita denn wieder zu Besuch kommt!? Das hat mich ganz besonders berührt. In dieser einen Stunde haben mich die Menschen hier offenbar so sehr ins Herz geschlossen, dass ich bald wieder willkommen bin. Und das, obwohl ich in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen bin, von ihrem Leben wahrscheinlich nur einen Bruchteil verstehe und ihnen mein Land so gänzlich unbekannt ist. Doch ich spüre – das ist das „Leben auf Augenhöhe“, von dem wir in unseren Seminaren vor dem Freiwilligeneinsatz so oft gesprochen haben.
Schweren Herzens lasse ich diese unglaubliche Landschaft und diese bemerkenswerten Menschen zurück. Jeden Tag dufte ich mehrere Stunden im Garten von Padre José mitarbeiten. Wir haben alle zusammen im Garten zu Mittag gegessen und waren dankbar, diese Momente teilen zu dürfen: Padre José, der junge Gärtner Fernando, der sein Heimatland Venezuela aufgrund der katastrophalen politischen Zustände zurückgelassen hat, José Luís, der an verschiedensten Orten im Projekt Initiative ergreift, drei Ordensschwestern, die hier in Schulen, Krankenstationen und in der Kirchengemeinde dienen, dem jungen Jesuitenanwärter Angel aus Lima, der tiefe Sorgen um die Gesundheit seiner Mutter hat, die ihr Augenlicht zu verlieren droht. In unserer Gemeinschaft hat er sich sichtbar getragen gefühlt. Und nicht zu vergessen die beiden Hunde Francesca und Mus, die von der Straße geholt wurden und nun ein Leben wie in einem kleinen Paradies führen dürfen. Sie alle werde ich nicht vergessen, denn jeder lebt hier auf seine Weise seine Mission und ist ein Segen für die Menschen in den Anden Peru’s – dem Himmel so nah!
Bevor ich nach Piura zurückreise, erwartet mich noch eine andere Realität in den „cerros“ von Lima. Die 11-Millionen-Hauptstadt ist umgeben von steinigen Hügeln, auf denen sich über Jahrzehnte Migranten aus dem Dschungel und den Anden Perus niedergelassen haben in der Hoffnung, hier Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Leider wurden diese Erwartungen zumeist enttäuscht und sie verbringen ihren Alltag nun in den Armutsvierteln von Lima. Dass es nicht täglich zu zahlreichen Abstürzen der riskant in den Hang gebauten Hütten und Häusern kommt, gleicht einem Wunder. Diese Orte über die steilen Schotterpfade zu erreichen, ein Rätsel.
Genau diesen „Hügelkindern“ haben sich das peruanisch-schweizerische Paar Ronald und Rebekka in ihrem Projekt „Tikvá“ angenommen. Sie quälen sich durch den fürchterlichen Stadtverkehr von Lima, um über eine Stunde später zu den 6 bis 14jährigen Kindern zu gelangen, die sie schon ungeduldig erwarten. In einer Garage dürfen sie sich versammeln um zusammen zu spielen, zu basteln aber auch lesen, rechnen und schreiben zu lernen. Doch bevor alle beginnen, wird ein Gebet gesprochen und heute bitten die Kinder um die Genesung des Papas und Opas von einem der Jungen, der deshalb sehr besorgt ist.
In der Stunde, die ich miterleben darf, werden kleine Figürchen aus Ton fabriziert. Besonders die Kleinsten brauchen etwas Hilfe und freuen sich über meine Assistenz. Ich stelle mir vor, wie es wohl sein muss, hier groß zu werden. Im Winter wird es in Lima eisig kalt. Die Hütten sind zumeist aus Pressspan oder Brettern geschustert. Ein Wellblechdach, Wasser wird rationiert und muss sorgsam verwendet werden denn wenn es verbraucht ist bevor die Pumpe erneut Wasser zuteilt, hat ein Problem! Die Schule ist oft weit entfernt. Geld für den Schulbus haben die Familien nur selten übrig. Somit müssen die Kinder den beschwerlichen Weg zu Fuß zurücklegen. Im Sommer brennt die Sonne, ein schwerer Rucksack auf dem Rücken und mit einfachen Sandalen den Schotterberg hinauf. Im Winter derselbe Weg – sie machen die Wohnungstür auf und treten ein in eine eiskalte Hütte. Wenn ich allein daran denke, wie schwer die langen dichten Haare der Frauen und Mädchen nach einer kalten Dusche im kalten Haus wohl trocknen und nicht selten eine schwere Grippe auslösen.
Ein weiteres großes Problem: Das Schulgeld! Jedes Schuljahr muss eine neue Schulanmeldung erfolgen – und bezahlen. Wer Pech hat, bekommt keinen Platz mehr und sucht verzweifelt weiter, bis u.U. auch in einem anderen Stadtbezirk ein freier Platz gefunden wird. Das bedeutet gleichzeitig: neue Schulkameraden, weiter Schulweg, mehr Fahrgeld. Dazu kommt die Schuluniform, eine Latte von Schulmaterial und monatliche Schulgebühren. Und das in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in extremer Armut lebt.
Doch den 35 Kindern in der dunklen Garage ist in diesem Moment nichts anzumerken. Wir verbringen zwei wunderschöne Nachmittage zusammen. Und als ich mich dann verabschiede, bittet mich die 7jährige Arlette Yareli, mich zum Busterminal begleiten zu dürfen. Sie will mich unbedingt verabschieden. „Mein Papa hat ein Mototaxi [Motorrad auf drei Rädern] und er kann dich zum Bus fahren.“ meint sie. Es tut mir etwas leid, ihr diesen Wunsch nicht erfüllen zu können, doch ich drücke sie noch einmal ganz fest und versuche zumindest, ihr eine kleine Hoffnung zu machen, sie wieder einmal zu besuchen – in den Hügeln von Lima.
In den 18 Stunden, in denen mich der Bus auf der Panamericana zurück nach Piura bringt, gehen mir all diese Begegnungen nochmals durch den Kopf. Die vergangenen zwei Wochen haben mich nochmals tiefer hineinwachsen lassen in dieses unergründliche Land. Eine neue Realität hat sich mir eröffnet. Eine Realität, die man sich selbst im Traum nur schwer vorstellen kann und die meinen Wunsch noch weiter verstärkt, irgendwann eine gerechte Welt für ALLE Menschen dieser Erde vorzufinden!
Hinter den Kulissen…
Da wurden sie hineingeboren - die Kinder und Jugendlichen von CANAT
März 2024
Jedes Jahr, kurz bevor das neue Jahr von CANAT nach den 3monatigen Sommerferien wieder beginnt, müssen die Kinder und Jugendlichen von ihren Eltern neu angemeldet werden. Es gibt ein strenges Raster, wer genau die Kriterien erfüllt und am Dringendsten die Begleitung von CANAT in diesem Jahr benötigt, denn die Kapazitäten sind begrenzt.
Aus der städtischen Zone, wo sich auch unsere ludoteca befindet, werden 92 Kinder aus 53 Familien teilnehmen. Die ländliche Zone, also der „campo“, umfasst rund 100 Jugendliche, die in ihrem beruflichen Werdegang begleitet und auch für ein kommunalpolitisches Engagement vorbereitet werden.
Es war das erste Mal, dass ich diesen ganzen Prozess mitverfolgt und auch aktiv unterstützt habe. Mit unseren Laptops bestückt sind wir ausgerückt in die ludoteca bzw. in kleine Kommunalsäle auf dem Land, damit die Familien einen möglichst kurzen Weg der Anreise haben. Denn jeder Sol (peruanische Währung; 1 EUR ≠ 4 Soles) bedeutet enorm viel! Es muss wirklich alles offengelegt werden: Anzahl der Familienmitglieder, Arbeitsstelle, Schul- und Berufsabschluss der Eltern, Einkommen, Bauweise des Hauses, Krankenversicherung, Schule bzw. Ausbildung der Kinder und das familiäre Zusammenleben.
Es ist mir bei einigen Fragen sehr unangenehm, diese zu stellen. Besonders als ich feststelle, dass die Mutter oder der Vater weder lesen noch schreiben können und dazu ihre Kinder um Hilfe bitten müssen. Wie tiefgreifend die Schicksale und die Lebensbedingungen z.T. sind, möchte ich anhand von zwei Familien beschreiben:
Da sind Marcos (10) und Zoe (7), die in die ludoteca kommen seit ich denken kann. Ein wichtiger Teil in ihrem kleinen Leben. Eigentlich sollten sie nun beide wieder in die Schule gehen, nachdem die Sommerferien vorüber sind. Doch Marcos‘ Mama erzählt mir, dass sie das Schulgeld für Marcos im vergangenen Jahr nicht bezahlen konnte. Aufgrund dieser Schulden wird er im neuen Schuljahr nicht zugelassen. Sie hat nun eine Putzstelle gefunden und arbeitet an vier Nächten in der Woche (18.30 – 3.30 Uhr), um mit dem Verdienst von 60 Soles pro Nacht (= 15 EUR) die Schulden zu tilgen. Ich nehme diese Info gleich auf, damit Eliana, die Leiterin der ludoteca, mit der Schule Kontakt aufnimmt um Marcos die Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen und eine Lösung zu finden. Der Papa von Marcos und Zoe arbeitet in der Hühnerschlachtung (6 Tage pro Woche, 11 Stunden täglich) und verdient dabei 1.000 Soles (= 250 EUR). Was man wissen sollte: selbst die staatlichen Schulen erheben Gebühren, und zwar: pro Schuljahr für die Wiedereinschreibung – selbstverständlich pro Kind! Hat die staatliche Einrichtung keine freien Schulplätze mehr frei, bleibt nur die Einschreibung in einer privaten Schule. Die Monatsgebühren liegen hier bei rund 300 Soles (= 75 EUR). Dazu kommt bei beiden Schulformen die Schuluniform (bestehend aus Bluse, Rock oder Hose sowie einem Sportanzug) und dem Schulmaterial (Hefte, Stifte, Schere usw.). Einige benötigen täglich ein Fahrgeld, da die wohnortnahe Schule keine freien Plätze mehr hat und somit eine weiter entfernte Schule gesucht werden muss. Jetzt verstehe ich auch, warum viele der Kinder kein Pausenvesper von zuhause mitbekommen. Wie soll das eine Familie stemmen? Marcos und Zoe wohnen mit ihren Eltern in einer schlichten Hütte aus Sperrholz, Erdboden und Wellblechdach, das sich tagsüber enorm aufheizt. Wasseranschluss ist nicht vorhanden, weshalb sie das Wasser kaufen müssen, das ein Tanklaster anliefert. Stromanschluss ebenfalls Fehlanzeige. Dieser wird illegal abgezwackt, was nicht ungefährlich ist? Mobiliar: ein Tisch mit Stühlen, Bett mit Matratze. Gekocht wird mit Gas bzw. auf dem offenen Feuer und im Hinterhof werden ein paar Hühner gehalten. Marcos und Zoe kommen immer ordentlich gekleidet, fehlen kaum und die Mutter ist sehr pflichtbewusst und beteiligt sich an allen Veranstaltungen. Nie habe ich sie entmutigt, protestierend oder pessimistisch erlebt – im Gegenteil. Wie sie ihr Leben organisieren und alles dafür tun, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ebnen, ist bemerkenswert!
Und dann ist da Azucena, 22 Jahre alt. Sie wohnt mit ihrer Zwillingsschwester und ihrer Mutter in einer „quebrada“ am Rande der Stadt. Das ist eine tiefe Furche, die sich einst gebildet hat, als das Wasser bei den Überschwemmungen seinen Lauf gesucht hat. Es gibt viele solche Siedlungen, in denen sich die Menschen niedergelassen haben, denn es ist „Niemandsland“. Deshalb gibt es hier auch keinerlei Service wie Strom, Wasser, Abwasser und weitere menschenwürdige Lebensgrundlagen. Azucena hat eine starke Sehbehinderungen und trägt eine starke Brille. Sie besucht eine Schule und ihre Schwester hat eine Ausbildung zur Mechanikerin abgeschlossen. Ein großer Erfolg und zugleich die Erfüllung eines Traumes. Doch – in dieser männerdominierten Welt eine Anstellung zu finden scheint beinahe unmöglich. So muss die Familie aktuell vom Einkommen der Mutter leben. Und wie das funktioniert, ist mir unerklärlich. Sie verdient ihr Geld damit, die Etiketten der Plastikflaschen abzuziehen. Pro Kilogramm erhält sie 0,20 Soles – das sind 0,05 EUR. Tagesverdienst ca. 15 Soles (knapp 4 EUR). Ihr Zuhause besteht aus zwei Zimmern, ebenfalls bestehend aus Erdboden, ein paar spärlichen Holzwänden und etwas Wellblech zum Schutz der Sonne. Über die Hitze sprechen wir besser nicht. Strom ist ebenfalls nicht vorhanden und die Kochstelle auf offenem Feuer, wozu selbstverständlich täglich Feuerholz gesammelt werden muss. Zum Lagern ist kein Platz vorhanden. Als ich im Gespräch die Daten für die Wiederanmeldung von Azucena bei CANAT aufnehme, bitte ich ihre Mutter, mir ihren Namen aufzuschreiben, da er mir etwas kompliziert erscheint. Etwas geniert bittet sie ihre Tochter, dies für sie zu tun. Trotz ihrer Seheinschränkung kommt sie meiner Bitte nach und ich weiß sofort Bescheid: Señora Juana Aparicia ist Analphabetin. Hätte ich das gewusst, hätte ich sie selbstverständlich nicht in diese unangenehme Situation gebracht. Wie kommt diese Familie nur durchs Leben, frage ich mich? „Wir drei halten zusammen und unterstützen uns gegenseitig“ erwähnt die Mutter, als ich sie nach der familiären Atmosphäre frage. Und davon bin ich voll und ganz überzeugt. Wieder einmal begegne ich Menschen, vor denen ich größten Respekt habe. Ihre Bescheidenheit und Großherzigkeit, die ich in der kurzen Begegnung erkenne, lassen mich große Ehrfurcht spüren. Würde ich das Leben genauso annehmen können, wäre ich in ihrer Situation? Das frage ich mich so oft.
Doch genau diese Familien sind unsagbar dankbar, den Beistand und die Unterstützung von CANAT zu erfahren, die sich so vielfältig darstellt: psychologische Begleitung, Unterstützung bei gewissen Interaktionen mit Behörden, Vermittlung zwischen Schule bzw. Ausbildungszentrum und Familie, regelmäßige Treffen zur Stärkung der eigenen Persönlichkeit, dem Kennen der eigenen Rechte und Pflichten, aber auch punktuelle, überlebensnotwendige Lebensmittelspenden. Und das Wichtigste: es hilft ihnen, die Hoffnung weiter flammen zu lassen, irgendwann ein besseres Leben führen zu können.
Und dann eröffnet sich noch eine ganz andere Dimension von Problemen, die den Jugendlichen auf dem Land – weit entlegen der städtischen Bevölkerung mit all seiner Infrastruktur – das Lernen und Studieren scheinbar verweigern wollen. Es ist ein absolutes Glück, die Aufnahme in ein Ausbildungszentrum geschafft zu haben, wo sie ohne Schulabschluss einen Beruf erlernen dürfen. Hier spielt CANAT eine zentrale Rolle, um ihnen diesen Zugang zu ermöglichen. Doch wie soll das Fahrgeld dorthin bezahlt werden, wenn der Vater verstorben, die Mutter erkrankt ist und die Jugendlichen oft die einzigen Familienmitglieder sind, die durch eine Arbeit (egal, ob in einer Fabrik, als Erntehelfer oder Küchenhilfe) die Familie ernähren können? Ich habe zum Beispiel zwei Schwestern kennengelernt, die in einer Fischfabrik arbeiten. Sie werden um 16 Uhr von einem Bus abgeholt und in die zwei Stunden entfernte Fabrik gebracht, wo sie im Akkord Fisch zerlegen und 0,70 Soles (= 0,18 EUR) pro Kilo verdienen. Bis zu 100 kg schaffen sie pro Tag in einer eiskalten Fabrikhalle. Erschöpft kommen sie am nächsten Morgen um 7 Uhr nach Hause. Dann gilt es, die Tiere zu versorgen und der gesundheitlich stark gebeutelten Mutter und Tante unter die Arme zu greifen, mit denen sie zusammenleben. Der Vater ist bereits verstorben. Während Maria, die ältere der beiden, das Ausbildungszentrum besucht hat, arbeitete ihre Schwester in der Fischfabrik, um ihr die Ausbildung zu finanzieren. Als sie diese abgeschlossen hat, drehten sie den Spieß um und so haben nun beide ein Zertifikat erlangt, das eine besser bezahlte Arbeit erlaubt.
Doch egal ob Schule, Ausbildungszentrum oder Arbeitsstelle: das Fahrgeld ist der große Knackpunkt. Sie wohnen wirklich sehr entlegen auf dem Land und es müssen täglich ca. 15 Soles (knapp 4 EUR) aufgebracht werden – allein für die Mobilität. Für viele heißt es deshalb knallhart: „lernen oder hungern“!
CANAT kann diese Fahrtkosten generell nicht finanzieren, da hierfür keine Kapazität vorhanden ist. Es werden die Kosten für die Schulanmeldung, die monatlichen Schulgebühren, die Unterrichtsmaterialien sowie die Uniform finanziert.
Dank einer Sonderspende ist es mir jedoch gelungen, zumindest für einige Zeit sicherzustellen, dass die Jugendlichen ihrem beruflichen Traum etwas näherkommen, denn sie alle sind höchst motiviert und geben alles, um durch fleißiges Lernen – trotz der harten Lebensumstände und der großen Verantwortung, die sie für ihre Familie tragen – ihr Ziel zu erreichen.
All diesen kleinen und großen Menschen – sowohl in den städtischen Armutsvierteln als auch weit entlegen im campo – ein klein wenig helfen zu dürfen ist für mich von unsagbarer Bedeutung. Denn jeder Mensch hat das Recht auf ein Zuhause, das ihn schützt, in dem er sich wohl und geborgen fühlt und in dem er nicht hungern muss. Jeder hat das Recht auf eine gesundheitliche Versorgung sowie den Zugang zum Lernen, um später eine angemessene Arbeit finden zu können. Doch für viele sind diese Gesetze ganz weit weg – zumal sie sie nicht einmal lesen können…
Dem Leben so nah…
Noch einmal abtauchen in den Urwald des Amazonas
April 2024
Dass ich so kurz vor dem Ende meiner Zeit in Piura noch einmal in die Selva – also den Dschungel Peru’s reisen werde – das war wirklich eine Überraschung aus heiterem Himmel. Im vergangenen Jahr durfte ich diesen magischen Ort ja bereits mit Raquel, meiner französischen Mitfreiwilligen, kennenlernen. Und die Vision, auch dort eine ludoteca zu öffnen, konnte nun tatsächlich Wirklichkeit werden; dank Raquel, die sich dort als Freiwillige für ein weiteres Jahr verpflichtet hat.
Um ihr als „Einzelkämpferin“ etwas unter die Arme zu greifen hat CANAT zwei Teams nach „Santa Maria de Nieva“ geschickt, um jeweils eine Woche für die Kinder und auch ihre Eltern da zu sein. Da ich den Ort, die Kultur und die Menschen bei meinem ersten Besuch schon etwas kennenlernen dufte, konnte ich dem Team in dieser abenteuerlichen Welt schon ein bisschen Orientierung bieten.
Doch was ist so „anders“ dort? Es scheint fast unwirtlich wenn ich nun berichte, dass die Kultur der Awajún daran glaubt, dass große, blonde Männer kommen, um deren Kinder zu essen. Oder dass man besser keine Geschenke macht da der Glaube besteht, einen Dämonen zu überreicht zu haben, wenn der beschenkten Person danach etwas zustößt. In dieser Welt mit unseren europäischen Werten und Vorstellungen existieren zu können, ist nicht ganz ungefährlich. Das kann einen im Extremfall wirklich das Leben kosten, denn die spitzen Lanzen sind nicht nur zur Dekoration im Haus vorzufinden.
Doch unsere Tage mit den Kindern hätten fröhlicher und bereichernder nicht sein können. Sofort haben sie uns ins Herz geschlossen – und wir sie auch!!! Die ludoteca ist für sie ein unverzichtbarer Raum, in dem sie spielen, lernen und Kind sein dürfen. Gäbe es sie nicht, wären sie auf der Straße. Ihre Eltern kommen erst spät am Abend nach Hause. Die Armut zwingt sie, viele Stunden am Tag zu arbeiten. Die meisten Familien haben eine „chacra“ – ein Stück Land, auf dem sie Yucca, Bananen oder verschiedenste Palmbäume kultivieren. Da war zum Beispiel die kleine Suemy, die eines nachmittags ganz abgeschlagen in die ludoteca kam, sich an mich kuschelte und sagte, ihr sei so schlecht und schwindelig. Für einen kurzen Moment hatte ich wirklich Sorge, sie würde umkippen. Und als sie dann noch von Fieber sprach, liegt der erste Verdacht sofort beim gefährlichen Dengue. Doch Fieber hatte sie zum Glück keines! Ich habe sie ins Nebenzimmer geführt, eine Plastikplane ausgelegt, ihr ein Kopfkissen aus einer Plastiktüte gebastelt, in die ich Stoffreste gestopft habe. Mit einem Buch habe ich ihr etwas Luft zugefächert und einen Becher mit Wasser neben sie gestellt. Hier konnte sie sich etwas ausruhen und hat das auch genossen. Ihre Eltern mussten heute beide hinaus aufs Feld und deshalb meinte ihr Vater wohl zu ihr: „Es ist besser, du gehst heute in die ludoteca damit du nicht alleine zuhause sein musst.“ Es ist wirklich traurig zu realisieren, wie groß die Not der Familien ist wenn die Arbeit derart überlebensnotwendig ist und ihnen nicht erlaubt, ihr krankes Kind zuhause zu betreuen. Doch wir haben Suemy schnell wieder aufgepäppelt und nach einer Stunde wollte sie dann auch wieder an den allgemeinen Aktivitäten teilnehmen.
In den drei gemeinsamen Programmtagen haben wir den Kinder die Welt erklärt, gezeigt und sogar erschmecken lassen! Wie das geht? Ganz einfach:
1.Tag:
„Ich zeige dir meine Welt und du zeigst mir deine!“ Wir haben uns gegenseitig einen bayerischen Volkstanz, einen Kreistanz aus der Normandie und einen fröhlichen Tanz aus dem peruanischen Urwald beigebracht, Rasseln aus Klopapierrollen gebastelt und mit uns unseren Querflöten gaben Leonie und ich noch ein kleines Konzert, bei dem ich beinahe schmunzeln musste, als ein paar Kinder plötzlich fröhlich im Takt dirigierten. Alle anderen saßen mit offenem Mund staunend da, denn dieses Instrument hatten sie wirklich noch nie gesehen!
2. Tag:
Heute wird gekocht und geschlemmt – und zwar allerlei Leckereien aus Deutschland, Frankreich und der Küste Peru’s. Was es da so gab? Mit weißen Kochhauben gekrönt durften die Kinder einen Obstigel, Guacamolekräcker, Schokocrossies, Limettenlimonade, gefüllte Eier und Bananenbrot mit Papayamarmelade kreieren und vernaschen. Schweißperlen stehen ihnen auf den Näschen; so fleißig und interessiert sind sie dabei! Ich hatte wirklich Bedenken, dass es ihnen von diesem bunten Mix schlecht wird. Doch alle haben diese vielfältigen Leckereien bestens verdaut und sogar noch ein paar Versucherle in Bananenblätter eingepackt mit nach Hause genommen, um sie mit ihrer Familie zu teilen. Diese große Solidarität ist einfach unglaublich! Und dann müssen alle schleunigst nach Hause, denn ein großes Gewitter zieht auf – und die sind hier wirklich nicht zu unterschätzen. Wir müssen mit dem wackeligen Boot noch den Fluß überqueren und packen uns in den Regenponcho, um nicht total durchnässt in unserer Unterkunft anzukommen. Plötzlich ist auch noch der Strom weg – doch die Menschen hier nehmen das gelassen hin. Das ist nicht das erste Mal!
3. Tag:
Und zum Abschluss wird es noch einmal richtig kreativ. Heute bieten wir den Kindern eine Kunstwerkstatt und lassen eine großes Stoffbanner entstehen, das alle Menschen dieser Erde vereint! In die Mitte malen wir die Weltkugel und rundherum halten sich die Menschen aller Nationen an der Hand. Aus Stoff- und Wollresten entstehen ihre bunten Kleider und mit Muscheln, Samen und Federn entstehen die kunstvollsten Haarmähnen, Schuhe oder andere Details. Überglücklich und sehr stolz betrachten sie am Ende ihr Werk – und selbstverständlich bekommt es einen Ehrenplatz in ihrer ludoteca.
Es waren drei ganz besondere und außergewöhnliche Tage, die wir miteinander erlebt haben. Nebenbei wurden sowohl den Kindern als auch interessierten Eltern psychologische Einzelgespräche durch das professionelle Wissen der CANAT-Mitarbeiter angeboten. Wir waren erschrocken, wie präsent hier in der Selva die häusliche Gewalt ist. Vermutlich war auch dies der Grund, warum die Kinder nach unserem Abschied zu Raquel gesagt haben: „Wie schade, dass unser Besuch schon wieder weg ist. Sie waren so lieb und haben so sanft mit uns gesprochen.“
Diese ludoteca hat noch eine ganz besondere Funktion: Den über 30 Kindern, die Raquel überwiegend alleine betreut, wird auch eine Hausaufgabenunterstützung geboten. Dies zu bewältigen ist fast unmöglich denn sie sind zwischen 6 und 14 Jahre alt und haben einen sehr individuellen Hilfebedarf. Doch Raquel gibt ihr Bestes und hofft darauf, ganz bald eine zusätzliche Unterstützung zu erhalten, um den Kindern die Grundlagen mit auf ihren Weg geben zu können, die sie brauchen, um in dieser ganz speziellen Welt tief im Urwald Peru’s bestehen zu können!
DER ABSCHIED
Meine schwersten Tage in Peru
Dass es mir diesmal noch viel schwerer fallen wird, die mir so sehr ans Herz gewachsene Welt am anderen Ende der Erde hinter mir zu lassen – das hatte ich schon befürchtet (und das war auch das Einzige, wovor ich tatsächlich Angst hatte). Aber dass es so sehr schmerzen würde, das hätte ich nicht gedacht!
Doch in dreizehn Monaten sind eben sehr tiefe Verbindungen gewachsen und ich habe unzählige Momente mit so vielen Menschen geteilt – freudige, besorgniserregende, unerwartete, aufregende und einfach unvergessliche!
Einige Tage zuvor hat José – ein spanischer Freiwilliger – folgende Frage in die Runde geworfen: „Wenn du entscheiden müsstest, ob du den Tag oder die Art und Weise deines Todes wissen möchtest – was würdest du bevorzugen?“
Als für mich der Abschied so greifbar nah war konnte ich nachempfinden wie es wohl sein muss, wenn man weiß, dass man sich in Kürze vom Leben verabschieden muss. Und jedes „Adios“ meine Stimme versagen lassen und ich konnte es nicht verhindern, dass mir die Tränen über die Wangen liefen – selbst, als ich dem Obstverkäufer auf der Straße „Auf Wiedersehen“ gesagt habe, als ich ihn zum letzten Mal vor meiner Haustüre angehalten und meinen Einkauf gemacht habe.
Und da waren noch so viele weitere Stationen…
Als ich diesen letzten Eintrag für die Seite „Verena in Peru“ verfasse, zeigt mein Kalender einen Spruch an, der treffender nicht ausdrücken könnte, was mich dieses Jahr in Peru gelehrt hat:
„Am reichsten sind die Menschen,
die auf das meiste verzichten können.“
(Rabindranath Tagore)